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02-02-2022
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Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung

Der nachfolgende Text stellt eine stark gekürzte Fassung des Kapitels "Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung" aus dem Handbuch der Schwerbehindertenvertretung dar, welches im 1. Quartal 2023 erscheinen wird:

Der Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung ergibt sich aus § 164 Abs. 4 SGB IX. Es handelt sich um einen enorm wichtigen Anspruch der schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten KollegInnen gegenüber dem Arbeitgeber auf Schaffung für sie passender Arbeitsbedingungen.

Kann ein schwerbehinderter oder ihm gleichgestellter Arbeitnehmer seine Arbeit auch nach Umrüstung des Arbeitsplatzes aus Gründen seiner Behinderung nicht mehr verrichten, ist an eine Qualifizierung auf eine andere gleichwertige oder höherwertige Tätigkeit zu denken, wenn diese Qualifizierung eine weitere (behinderungsgerechte) Beschäftigung ermöglicht.[1]

In seiner Entscheidung vom 16.05.2019, 6 AZR 329/18, Rdz. 35 führt das Bundesarbeitsgericht wie folgt aus:

„Im bestehenden Arbeitsverhältnis können schwerbehinderte Menschen daher bis zur Grenze der Zumutbarkeit die Durchführung des Arbeitsverhältnisses entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation verlangen. Dies führt zu einer Einschränkung der Organisationsfreiheit des Arbeitgebers, denn dieser ist zu einer behinderungsgerechten (Um-)Gestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet, um den Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen zu erfüllen. Gegebenenfalls hat er eine diesem entgegenstehende betriebliche Umstrukturierung sogar rückgängig zu machen. […] Kann ein schwerbehinderter Arbeitnehmer die vertraglich geschuldeten Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, so führt dies nicht ohne Weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruchs. Er kann dann vielmehr einen Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht erfasst, eine entsprechende Vertragsänderung verlangen.“

Versäumt es der Arbeitgeber schuldhaft, die behinderungsgerechte Beschäftigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers nach § 164 Abs. 4 S. 1 Ziffern 1 bis 5 SGB IX zu ermöglichen, hat der Arbeitnehmer einen Schadensersatzanspruch[2] in Höhe des ihm entgangenen Lohns nach § 280 Abs. 1 BGB sowie aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX. § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX ist Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB, dessen schuldhafte Verletzung zum Schadensersatz verpflichtet.[3] Darüber hinaus kann ein Anspruch auf die Vergütung unter dem Gesichtspunkt des sog. Annahmeverzugs des Arbeitgebers bestehen. [4]

„Bei beschränkter Leistungsfähigkeit auf Grund einer Behinderung ist der Arbeitgeber nach § 106 Satz 3 GewO verpflichtet, im Rahmen der Ausübung seines Direktionsrechts auf Behinderungen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen. Ist es deshalb dem Arbeitgeber möglich und zumutbar, dem nur eingeschränkt leistungsfähigen Arbeitnehmer Arbeiten zuzuweisen, die seiner verbleibenden Leistungsfähigkeit entsprechen, ist die Zuweisung anderer Arbeiten nach § 106 Satz 1 GewO unbillig […].“[5]

Geht der schwerbehinderte Arbeitnehmer davon aus, dass er seine Arbeitspflicht nicht mehr erfüllen kann, so muss er den Arbeitgeber hierauf hinweisen und die begehrte behinderungsgerechte Beschäftigung konkretisieren, also die nach seiner Sicht mögliche Umrüstung des Arbeitsplatzes darlegen oder den aus seiner Sicht möglichen (ggfs. nach einer Weiterbildung) anderen Arbeitsplatz benennen.[6]

Lehnt der Arbeitgeber die durch den Arbeitnehmer umschriebene behinderungsgerechte Beschäftigung ab, muss er konkret begründen, warum die Umrüstung des Arbeitsplatzes oder eine Versetzung nach seiner Auffassung nicht möglich sein soll.[7] Wendet der Arbeitgeber ein, die Beschäftigung des Arbeitnehmers sei ihm gemäß § 164 Abs. 4 Satz 3 SGB IX unzumutbar, insbesondere sei die Umrüstung des Arbeitsplatzes zu teuer, so wird er mit diesem Argument durch das Arbeitsgericht voraussichtlich nicht gehört, wenn er nicht versucht hat, im Rahmen eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX finanzielle Hilfe des Integrationsamts zu erhalten.

Nach § 164 Abs. 4 Satz 2 SGB IX unterstützt das Integrationsamt den Arbeitgeber bei der Durchführung der für die behinderungsgerechte Beschäftigung erforderlichen Maßnahmen. Nach § 185 Abs. 3 Ziffer 2a) SGB IX i.V.m §§ 26 ff. der Schwerbehindertenausgleichsabgabe-Verordnung (SchwbAV) erbringt das Integrationsamt Geldleistungen für die behinderungsgerechte Einrichtung des Arbeitsplatzes.

Unterlassen es Arbeitgeber, finanziellen Hilfen zu beantragen, weisen Arbeitsgerichte den Einwand der Unzumutbarkeit der behinderungsgerechten Beschäftigung zurück.[8]

Darüber hinaus müssen Arbeitsplätze entsprechend den gesetzgeberischen Anforderungen eingerichtet sein; vergl. hierzu beispielsweise § 2 der Lastenhandhabungsverordnung.

Sicherheitsaspekte im Hinblick auf ein eventuelles Evakuierungsszenario können ein überwiegendes Interesse eines Arbeitgebers an einer Nichtbeschäftigung eines schwerbehinderten Menschen im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses nicht rechtfertigen, bevor der Arbeitgeber nicht die ihm obliegenden Verpflichtungen aus § 3a Abs. 2 ArbStättV und § 10 ArbSchG zur barrierefreien Gestaltung von Arbeitsplätzen erfüllt.[9] Zur Erfüllung seiner Pflicht kann der Arbeitgeber u.a. eine Stellungnahme der Fachkraft für Arbeitssicherheit zu den erforderlichen technischen Vorrichtungen und Unterstützungsleistungen einholen[10] oder das Integrationsamt einschalten.

Immer dann, wenn der Arbeitgeber Menschen mit Behinderung beschäftigt, muss er nach den Regelungen der Arbeitsstättenverordnung für die barrierefreie Gestaltung von Arbeitsplätzen, Sanitär-, Pausen- und Bereitschaftsräumen, Kantinen, Erste-Hilfe-Räumen und Unterkünften sowie den zugehörigen Türen, Verkehrswegen, Fluchtwegen, Notausgängen, Treppen und Orientierungssystemen, die von den Beschäftigten mit Behinderungen benutzt werden, Sorge tragen (§ 3a Abs. 2 ArbStättV). Die Nichterfüllung dieser Pflichten ist eine Ordnungswidrigkeit nach § 9 Abs. 1 ArbStättV.

Soweit § 164 Abs. 4 Ziffer 4 SGB IX den Anspruch auf behinderungsgerechte Gestaltung der Arbeitszeit einräumt, so kann der schwerbehinderte Mensch verlangen, in einem seiner Behinderung Rechnung tragenden zeitlichen Umfang eingesetzt zu werden, wenn die verlangte Beschäftigung dem Arbeitgeber zumutbar ist.[11]

Das gilt auch für den gesundheitlich begründeten Wunsch eines schwerbehinderten Mitarbeiters aus der Nachtschicht herausgenommen zu werden[12], einen höheren Anteil seiner Arbeitszeit im Homeoffice zu arbeiten[13], bzw. einen gemäß § 2 Abs. 7 ArbStättV bereits eingerichteten Telearbeitsplatz behalten zu können[14] oder aus einem Wechselschichtsystem herausgenommen zu werden[15]. Eine etwaige hieraus resultierende Mehr-Belastung anderer in der Wechselschicht verbleibender Arbeitnehmer stellt noch keine Unzumutbarkeit für den Arbeitgeber dar, den schwerbehinderten Arbeitnehmer aus der Wechselschicht herauszunehmen.[16]

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer muss durch ärztliches Attest nachweisen, dass seine Behinderung eine andere Gestaltung seiner Arbeitszeit erfordert, als Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung es vorsehen.[17] Der Arbeitgeber kann nicht ohne weiteres einwenden, dass der konkreten behinderungsgerechten Beschäftigung, z.B. der Telearbeit von zu Hause, eine Betriebsvereinbarung entgegenstehe. Vielmehr muss er gegenüber dem Betriebsrat zunächst einen Vorstoß unternehmen, für den schwerbehinderten Beschäftigten eine Ausnahmeregelung zu erreichen. Dem Arbeitgeber ist zuzumuten, eine entsprechende Ausnahmeregelung beim Betriebsrat durch Vereinbarung einer Protokollnotiz oder teilweisen Abänderung der Betriebsvereinbarung anzuregen. Lediglich die Kündigung der gesamten Arbeitszeitbetriebsvereinbarung und gegebenenfalls die Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens kann dem Arbeitgeber unzumutbar sein.[18]

Arbeitgeber müssen einem spezifischen Umschulungs- und Fortbildungsbedarf schwerbehinderter Arbeitnehmer nachkommen, wenn so die Beschäftigungsmöglichkeit im Betrieb erhalten bleibt.[19] Ggfs. ist der schwerbehinderte Mensch im Einzelfall dann nach der Qualifizierung zum Erhalt der Beschäftigungsmöglichkeit bei gleicher Eignung bei der Besetzungsentscheidung vorangig vor einem nicht behinderten Menschen zu berücksichtigen.[20]

Fortsetzung folgt im "Handbuch der Schwerbehindertenvertretung ", Erscheinungstermin im Dezember 2022

 

 

[1] LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.10.2016, 15 Sa 936/16, Rdz. 47

[2] LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.05.2018, 15 Sa 1700/17, Rdz. 18

[3] LAG Köln, Urteil vom 18.06.2020, 8 Sa 27/18, Rdz. 290; BAG, Urteil vom 03.12.2002, 9 AZR 462/01, Rdz. 69

[4] BAG, Urteil vom 4.10.2005, 9 AZR 632 /04, Rdz.14

[5] BAG, Urteil vom 4.10.2005, 9 AZR 632 /04, Rdz.14

[6] LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.01.2013, 8 Sa 333/12, Rdz. 38

[7] BAG, Urteil vom 10.05.2005, 9 AZR 230/04, Leitsatz; BAG, Urteil vom 4.10.2005,

9 AZR 632/04, Rdz. 28

[8] ArbG Berlin in einem sehr lesenswerten Urteil vom 4.11.2011, 28 Ca 8209/11, Rdz. 64; vergl. auch die in Rdz. 64 angegebene Fußnote 90 der Entscheidung des Arbeitsgereichts Berlin

[9] Hessisches LAG, Urteil vom 21.01.2020, 15 Sa 449/19, Rdz. 52

[10] Hessisches LAG, Urteil vom 21.01.2020, 15 Sa 449/19, Rdz. 52

[11] BAG, Urteil vom 16.05.2019, 6 AZR 329/18, Rdz. 35

[12] BAG, Urteil vom 3.12.2002, 9 AZR 462/01, Orientierungssatz 2 und Rdz. 62

[13] Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 29.10.2019, 6 CE 19.1386, Orientierungssatz 2 und Rdz. 21 zum Anspruch eines Beamten auf Einrichtung eines Teleheimarbeitsplatzes

[14] Verwaltungsgericht Trier, Beschluss vom 11. April 2014 – 1 L 93/14.TR

[15] ArbG Hamburg, Urteil vom 3.07.2019, 17 Ca 41/19, Rdz. 24 zum bejahten Anspruch auf den Wechsel aus einem Dreischicht-Betrieb in den Einschicht-Betrieb

[16] LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 3.2.2005, 4 Sa 900/04, Rdz. 31

[17] BAG, Urteil vom 3.12.2002, 9 AZR 462/01, Rdz. 63

[18] LAG Niedersachsen, Urteil vom 6.12.2010, 12 Sa 860/10, Rdz. 46

[19] BAG, Urteil vom 16.05.2019, 6 AZR 329/18, Rdz. 45

[20] BAG, Urteil vom 28.04.1998, 9 AZR 348/97, Rdz. 39

 

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