Fotolia.com: #73620034 | Urheber: stockpics

09-04-2021
von

Quo Vadis Europäisches Sozialversicherungsrecht nach dem Brexit?

Eine deutsche Bürgerin hat jahrzehntelang in England gelebt. Sie ist Rentnerin. Die gesundheitliche Versorgung erfolgte durch den NHS Englands. Vor einigen Jahren kehrte sie nach Deutschland zurück. Sie ist pflegebedürftig. Die deutsche gesetzliche Pflegekasse hat einen Pflegegrad 2 zuerkannt. Vor dem Umzug nach England war die Bürgerin in Deutschland privat krankenversichert. Die Rente wird nur durch Großbritannien gezahlt.

Wie gestaltet sich nun die sozialversicherungsrechtliche Absicherung  betreffend das Krankenversicherungsrecht und Pflegeversicherungsrecht?

a) Nach dem zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU am 24.12.2020 geschlossenen Partnerschaftsabkommen wird das Europäische Sozialversicherungsrecht gemäß der VO EG Nr. 883/2004 betreffend das Pflegeversicherungsrecht für bereits in der Vergangenheit begonnene Sachverhalte im Wesentlichen für weiter anwendbar erklärt.

b) Hieraus folgt, dass die deutsche gesetzliche Pflegeversicherung die Pflegesachleistungen gemäß § 36 SGB XI erbringt. Das bedeutet, dass ein Pflegedienst beauftragt werden kann, der seine Kosten von derzeit bis zu 689,- € monatlich (bei Pflegegrad 2) gegenüber der Pflegekasse abrechnet, wenn die Bürgerin einen entsprechenden Bewilligungsbescheid der Pflegekasse erhält. Die Leistung wird durch die Pflegekasse im Rahmen der sog. zwischenstaatlichen Sachleistungsaushilfe erbracht. Relevant sind hier Artikel 24 VO (EG) Nr. 883/2004 und Art. 22 der VO (EG) Nr. 987/2009.

c) Zudem kann die Bürgerin den sog. Entlastungsbetrag von bis zu 125,- € monatlich nach § 45b SGB XI gegenüber der Pflegekasse geltend machen, wenn der Bewilligungsbescheid der Pflegekasse vorliegt. Der Entlastungsbetrag dient dem Ausgleich von Kosten für die Unterstützung der pflegebedürftigen Bürgerin im Alltag gemäß § 45a SGB XI (soweit durch Landesrecht anerkannt) zum Beispiel durch Alltagsbegleitung oder haushaltsnahe Dienstleistungen.

d) Normalerweise kann in Deutschland anstelle der Beauftragung eines Pflegedienstes (§ 36 SGB XI) auch ein geringeres Pflegegeld (§ 37 SGB XI) beantragt werden. In Betracht kommt auch eine Kombination beider Leistungen (§ 38 SGB XI). In Sachverhalten, welchen wie hier beschrieben europäisches Recht zugrunde liegt, wird die deutsche Pflegekasse hingegen häufig kein Pflegegeld bewilligen. Denn nach bisheriger europäischer Rechtsprechung (EuGH-Urteil vom 05.03.1998, Rs. C-160/96 Molenaar) handelt es sich bei Pflegegeld (§ 37 SGB XI) um eine Geldleistung und nicht um eine Sachleistung (Pflegedienst, § 36 SGB XI).

Solche Geldleistungen müssen aber i.d.R. durch den zuständigen Staat (hier aufgrund des Rentenbezugs aus England: Großbritannien) nach Artikel 21 der VO (EG) Nr. 883/2004 exportiert werden (nicht aber durch den Wohnsitzstaat Deutschland übernommen werden), wenn es diese Leistung in England, bzw. anderen für die Zahlung zuständigen Saaten der EU gibt.

Es bleibt abzuwarten, wie Großbritannien mit dem Export solcher Geldleistungen nach dem Brexit in der Praxis umgeht. Wenn ein Bürger die vorbeschriebene Geldleistung beanspruchen möchte, muss er sie in Großbritannien beantragen (Art. 34 der VO EG Nr. 883/2004).

e) Nach derzeit gültigem Recht wird die deutsche Pflegekasse voraussichtlich auch keine Rentenbeiträge auf das Rentenkonto der pflegenden Person, meistens einer Angehörigen, nach § 44 SGB XI zahlen, da diese derzeit ebenfalls als Geldleistung betrachtet wird, welche im hier beschriebenen Sachverhalt nach Artikel 21 der VO (EG) Nr. 883/2004 durch den zuständigen Staat exportiert werden muss, wenn es diese Leistung im zuständigen Staat gibt.

f) Spiegelbildlich verlangt die deutsche gesetzliche Pflegekasse keine Beiträge. Die Rechtslage betreffend die Beitragserhebung, wenn ein Leistungsanspruch gegen ein ausländisches System der Gesundheitsfürsorge besteht – hier durch den NHS –, ist allerdings umstritten.

Die Zukunft wird zeigen, wie die gesundheitliche Versorgung der Bürgerinnen und Bürger Europas nach dem Brexit gewährleistet wird. Sollte an eine Aufnahme in die deutsche gesetzliche Krankenkasse und Pflegekasse gedacht werden, ist das Augenmerk (auch) auf folgende Punkte zu legen:

Kommt eine Aufnahme in die gesetzliche Krankenkasse nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V als sog. Auffangversicherung und in die gesetzliche Pflegekasse nach § 20 Abs. 1 Nr. 12 SGB XI in Betracht? Gelten Zeiten in Großbritannien als Vorversicherungszeit der deutschen gesetzlichen Krankenkasse der Rentner?

Dieser Beitrag stellt eine Meinung des Autors und keine rechtliche Beratung dar. Erforderlich ist jeweils eine sorgfältige rechtliche Prüfung des Einzelfalls.

 

© Rechtsanwalt Moritz Sandkühler

Berlin, 09.04.2021

Zurück

ADRESSE

Rechtsanwalt Moritz Sandkühler
Dietzgenstraße 38
13156 Berlin-Pankow

030 - 76 76 57 98


Kundenbewertungen & Erfahrungen zu Rechtsanwalt Moritz Sandkühler. Mehr Infos anzeigen.
Rechtsanwalt Moritz Sandkühler hat 5,00 von 5 Sternen 126 Bewertungen auf ProvenExpert.com
Auszeichnung zum Anwalt des Jahres im Sozialrecht
© Moritz Sandkühler                                                Kontakt             |            Kosten             |            Impressum             |            Datenschutz
Webdesign Berlin NIKNET